Verhandeln ist nicht nur diplomatische Praxis, sondern ein gesellschaftlicher Prozess. Er beginnt im Alltag, in Kirchen, auf Straßen, in Gesprächen, und schafft Räume, in denen Interessen aufeinandertreffen und neue Strukturen entstehen.
Fall der Berliner Mauer
09. November 1989
Am Abend des 9. November 1989 versammelten sich in Berlin tausende Menschen vor den Grenzübergängen. Gegen 23:30 Uhr öffnete ein Grenzbeamter an der Bornholmer Straße die Schlagbäume. Die Mauer, jahrzehntelang Symbol der deutschen Teilung, verlor über Nacht ihre Funktion.
Der Mauerfall war kein plötzlicher Umbruch, sondern Ergebnis eines langen Prozesses gesellschaftlicher, politischer und internationaler Aushandlung. Friedensgebete, Demonstrationen, Ausreiseanträge und offene Proteste hatten über Monate hinweg den Druck auf das SED-Regime erhöht. Gorbatschows Reformpolitik in der Sowjetunion signalisierte zugleich, dass ein autoritärer Kurs nicht alternativlos war.
Ein Wendepunkt war die Pressekonferenz des SED-Funktionärs Günter Schabowski. Seine spontane Aussage, dass neue Reisebestimmungen „sofort, unverzüglich“ gelten würden, löste eine Kettenreaktion aus. Noch am selben Abend strömten Menschen an die Grenzen und die Beamten ließen sie passieren.
Auch nach dem 9. November blieb Verhandlung zentral. Innenpolitisch mussten Themen wie Eigentumsfragen, Rentenübertragung und Verwaltungsstruktur geklärt werden. Außenpolitisch schuf der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen BRD, DDR und den vier Siegermächten den Rahmen für die deutsche Einheit.
Der Mauerfall zeigt: Verhandeln ist nicht nur diplomatische Praxis, sondern ein gesellschaftlicher Prozess. Er beginnt im Alltag, in Kirchen, auf Straßen, in Gesprächen, und schafft Räume, in denen Interessen aufeinandertreffen und neue Strukturen entstehen.
Verhandlungsinsights zum Fall der Berliner Mauer
Verhandlungsräume entstehen vor dem Tisch
Der Fall der Berliner Mauer zeigt: Entscheidende Aushandlungen fanden nicht in offiziellen Sitzungen statt, sondern in Kirchen, auf Straßen und in Redaktionen. Friedensgebete, Demonstrationen und Gesprächskreise bereiteten gesellschaftlich vor, was politisch später möglich wurde. Diese informellen Räume erzeugten Vertrauen, kollektive Deutungen und erste Kompromisslinien. Verhandlungen beginnen also oft nicht mit dem ersten Termin, sondern dort, wo Legitimität, Öffentlichkeit und Handlungsspielräume entstehen. Wer gesellschaftlichen Wandel verhandeln will, sollte daher frühzeitig auf diese Resonanzräume achten. Gerade in komplexen Situationen entscheidet nicht nur, was verhandelt wird – sondern wo, mit wem und wie sichtbar.
Autorität kann behindern oder Handlung ermöglichen
Am 9. November 1989 fehlte der DDR-Führung eine klare Linie. Günter Schabowski trat vor die Presse, ohne abgestimmte Informationen, und improvisierte die entscheidenden Worte: „sofort, unverzüglich“. In der Folge öffneten überforderte Grenzsoldaten eigenverantwortlich die Übergänge. Was wie ein Fehler wirkte, wurde zum historischen Wendepunkt. In Verhandlungen unter Druck kann mangelnde Steuerung Handlungsräume öffnen – wenn Akteure bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Diese Situation zeigt: Nicht jede erfolgreiche Verhandlung braucht perfekte Koordination, aber sie braucht Spielraum für Initiative. In starren Systemen kann „organisierter Kontrollverlust“ produktiver sein als totale Lenkung.
Gemeinsame Textarbeit statt Positionskampf
Die außenpolitischen Verhandlungen zur deutschen Einheit mündeten im Zwei-plus-Vier-Vertrag. Dieses Abkommen wurde nicht im Schlagabtausch verhandelt, sondern durch einen iterativen Prozess, an dem sechs Staaten mit teils gegensätzlichen Interessen beteiligt waren. Durch die schrittweise Entwicklung eines gemeinsamen Vertragstextes wurde der Konflikt auf eine konstruktive Ebene verlagert. Solche One-Text-Verfahren helfen, Kompromisse zu finden, ohne Gesichtsverlust zu riskieren. In komplexen, multilateralen Konstellationen ist es oft zielführender, gemeinsam an einer Lösung zu schreiben, statt Meinungen auszutauschen. Das fördert Ko-Konstruktion statt Konfrontation.
Zeitdruck schafft Handlungsfenster, aber auch Risiken
Der Weg zur deutschen Einheit wurde in wenigen Monaten beschritten – ein beispielloser Verhandlungsprozess in Tempo und Umfang. Dieser Zeitdruck entstand aus innerem Reformdruck, internationaler Erwartung und dem Machtverlust der DDR-Führung. Zwar konnten zentrale Fragen in kürzester Zeit geregelt werden, doch viele gesellschaftliche Spannungen (etwa zu Eigentum, Repräsentation oder Ost-West-Gerechtigkeit) blieben unaufgelöst. Verhandeln unter Zeitdruck kann Veränderungen ermöglichen, wenn Akteure vorbereitet sind. Gleichzeitig steigt das Risiko von blinden Flecken und asymmetrischen Ergebnissen. Wer Wandel mitgestalten will, sollte Zeitfenster strategisch nutzen, aber dabei nicht übersehen, was unter der Oberfläche offen bleibt.
Quellen & Weitere Informationen
- https://www.lpb-bw.de/gruende-mauerfall
- https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/mauerfall/
- https://www.aufarbeitung-berlin.de/themen/wie-die-friedliche-revolution-die-mauer-zu-fall-brachte
- https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/wende/Guenter-Schabowski-Sein-Zettel-und-der-Mauerfall,schabowskiszettel100.html
- https://www.iwm.org.uk/history/what-was-the-berlin-wall-and-how-did-it-fall&ved=2ahUKEwi21-2ejceQAxXbBfsDHQOsI6cQFnoECEsQAQ&usg=AOvVaw3bCGuE01ZssUSjlDgkNKQx
- https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/mauerbau-am-13-august-1961/geschichte
- https://www.mauerfall35.berlin/
- https://www.deutschland.de/de/topic/politik/deutschland-europa/mauerfall-und-deutsche-einheit
- https://www.bar.admin.ch/bar/de/home/service-publikationen/publikationen/geschichte-aktuell/mauerfall–zeitenwende-.html