Antonius von Borcke, Principal und Verhandlungsexperte bei Egger Philips, schaut souverän und zugewandt
in die Kamera. Er trägt ein hellblaues Hemd und ein olivfarbenes Sakko.

© World Trade Organization, Marrakesh Agreement April 1994

Erfolgreiche multilaterale Verhandlungen sind ein Balanceakt zwischen Strategie, Kompromissen, Machtverhältnissen und wahrgenommener Legitimität.

Gründung der WTO durch das Marrakesch-Abkommen (15. April 1994)

Vor der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 1995 wurde der internationale Handel durch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT, General Agreement on Tariffs and Trade) von 1947 geregelt. Ursprünglich war die Schaffung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) geplant, die jedoch aufgrund politischer Widerstände nicht zustande kam.

Obwohl das GATT erfolgreich Zölle senkte und den Handel liberalisierte, wies es strukturelle Schwächen auf. Es existierte keine dauerhafte Organisation, und der Fokus lag ausschließlich auf dem Warenhandel; Dienstleistungen und geistiges Eigentum blieben unberücksichtigt. Zudem war das Streitschlichtungsverfahren ineffizient, was insbesondere bei Handelskonflikten zwischen den USA, der EU und Schwellenländern zu Spannungen führte.

Mit der Uruguay-Runde (1986–1994) wurde daher ein ambitioniertes Reformprojekt gestartet, das die Handelsregeln grundlegend modernisieren und eine institutionelle Struktur schaffen sollte. Nach acht Jahren intensiver Verhandlungen wurde am 15. April 1994 in Marrakesch das Abkommen zur Gründung der WTO unterzeichnet, die am 1. Januar 1995 offiziell ihre Arbeit aufnahm.

Die WTO begann mit 123 Mitgliedstaaten und umfasst heute 166 Staaten, auf die rund 98 Prozent des weltweiten Warenhandels entfallen.

Wie funktioniert die WTO?

Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ist die Entscheidungsgewalt innerhalb der WTO nicht an einen Vorstand oder einen einzelnen Direktor delegiert. Stattdessen basiert das WTO-System auf einem mehrstufigen Entscheidungsprozess:

  • Ministerkonferenz: Das oberste Entscheidungsorgan der WTO ist die Ministerkonferenz, die normalerweise alle zwei Jahre zusammentritt. Sie legt die zentralen Leitlinien für das globale Handelssystem fest und entscheidet über wesentliche Handelsfragen.
  • Allgemeiner Rat (General Council): Zwischen den Ministerkonferenzen übernimmt der Allgemeine Rat in Genf die laufende Steuerung der WTO. Dieses Gremium trifft sich regelmäßig und agiert in drei unterschiedlichen Funktionen:
    • Als Allgemeiner Rat: Er koordiniert die tägliche Arbeit der WTO, setzt Beschlüsse der Ministerkonferenz um und überwacht die Einhaltung der WTO-Regeln.
    • Dispute Settlement Body: Er ist für das Streitbeilegungsverfahren zuständig und stellt sicher, dass Handelskonflikte zwischen Mitgliedstaaten gemäß den WTO-Regeln gelöst werden.
    • Trade Policy Review Body: Er überprüft regelmäßig die Handelspolitiken und -praktiken der Mitgliedstaaten, um Transparenz zu gewährleisten und Verzerrungen im internationalen Handel zu vermeiden.
  • Weitere Organe: Neben dem Allgemeinen Rat gibt es spezialisierte Gremien, die sich mit spezifischen Handelsfragen befassen. Dazu gehören:
    • Der Rat für den Handel mit Waren
    • Der Rat für den Handel mit Dienstleistungen
    • Der Rat für handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) Zusätzlich existieren zahlreiche Ausschüsse, Arbeitsgruppen und Arbeitsparteien, die sich unter anderem mit Themen wie Umwelt, Entwicklung und Beitrittsverhandlungen neuer Mitglieder befassen.

Diese Struktur ermöglicht es der WTO, ein breites Spektrum von Handelsfragen effizient zu verwalten und sicherzustellen, dass Entscheidungen durch Konsens oder geregelte Verfahren getroffen werden.

Was ist aus Verhandlungsperspektive interessant? 

Die Einigung zur Gründung der WTO bietet spannende Einsichten und Anstösse für Verhandler:innen heute:

Komplexe Verhandlungen brauchen Strategie – nicht nur Geduld

Multilaterale Verhandlungen wie die Uruguay-Runde (1986–1994) sind oft langwierig, aber eine lange Dauer allein führt nicht automatisch zu besseren Ergebnissen. Das Marrakesch-Abkommen von 1994 wurde als historischer Fortschritt im Welthandel gefeiert, doch viele zentrale Streitpunkte – insbesondere im Bereich Agrarsubventionen – wurden nicht gelöst, sondern vertagt. Dies führte später zu Blockaden in Folgeverhandlungen, wie bei der Doha-Runde. Für Verhandler:innen ist es entscheidend, zu bedenken, dass langwierige Prozesse das Risiko von Verhandlungsmüdigkeit und unzureichenden Kompromissen erhöhen. Ein klarer Verhandlungsplan mit definierten Zwischenzielen, flexiblen Anpassungsmechanismen und möglichen Eskalationsschritten kann helfen, Blockaden zu vermeiden und zielführende Ergebnisse zu erzielen.

Kompromisse sind nur dann sinnvoll, wenn sie tragfähig sind

Die WTO konnte nur durch eine Vielzahl von Kompromissen entstehen, doch nicht alle dieser „Deals“ erwiesen sich als nachhaltig. Beispielsweise wurde das TRIPS-Abkommen zum Patentschutz von vielen Entwicklungsländern als Teil eines umfassenden Verhandlungspakets akzeptiert, das unter anderem besseren Marktzugang in Industrieländern versprach. Allerdings wurden diese Erwartungen nicht in vollem Umfang erfüllt, was zu Spannungen und Forderungen nach Reformen führte. Daher ist es für Verhandler:innen entscheidend, nicht nur kurzfristige Kompromisse zu schließen, sondern langfristige Stabilität zu gewährleisten. Verhandlungspakete sollten strategisch geschnürt werden, um eine möglichst faire Balance der Interessen sicherzustellen. Wenn möglich, sind „Win-win“-Lösungen nachhaltiger als rein politische Notlösungen, die später Konflikte hervorrufen.

Beziehung und Koalitionsbildung als Verhandlungsmacht nutzen

Während der Uruguay-Runde dominierten vor allem Industrienationen die Verhandlungen, während Entwicklungsländer oft unter Druck gesetzt wurden. Erst als Entwicklungsländer sich in Gruppen wie der G77 organisierten und Schwellenländer in Verhandlungsforen wie der G20 eine größere Rolle übernahmen, konnten sie ihr Verhandlungsgewicht deutlich erhöhen. Für Verhandler:innen, die aus einer schwächeren Position heraus agieren, kann es daher entscheidend sein, Allianzen zu bilden. Die strategische Vernetzung mit anderen Akteuren stärkt den Einfluss und erhöht die Durchsetzungschancen eigener Interessen. In multilateralen Verhandlungen kann die richtige Koalitionsbildung oft den Ausschlag für erfolgreiche Ergebnisse geben.

Verhandlungen brauchen gesellschaftliche Legitimität und klare Umsetzungsmechanismen

Die Gründung der WTO war ein diplomatischer Erfolg, doch die langfristige Akzeptanz litt unter fehlender gesellschaftlicher Legitimität. Themen wie Arbeitsrechte, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit wurden in den WTO-Abkommen kaum berücksichtigt, was später zu massiven Protesten führte (etwa während der Ministerkonferenz in Seattle 1999). Ein weiteres Problem zeigte sich in der Funktionsweise des WTO-Streitbeilegungssystems, das seit 2018 durch die Blockade der USA bei der Ernennung neuer Richter zunehmend handlungsunfähig wurde, was die Durchsetzung internationaler Handelsregeln erschwerte. Die Lehre daraus ist klar: Ein Abkommen ist nur so wirksam wie seine politische Unterstützung und seine institutionellen Umsetzungsmechanismen. Verhandler:innen sollten frühzeitig gesellschaftliche und politische Akteure einbinden und sicherstellen, dass getroffene Vereinbarungen auch durchgesetzt werden können.

Erfolgreiche multilaterale Verhandlungen sind ein Balanceakt zwischen Strategie, Kompromissen, Machtverhältnissen und wahrgenommener Legitimität. Die WTO-Verhandlungen zeigen, dass langfristige Stabilität nur erreicht wird, wenn Verhandlungsergebnisse gut durchdacht, realistisch umsetzbar und von einer breiten Basis getragen werden.